Die jüdische Mutter - Mit e. Nachw. v. Esther Dischereit
Verlag | Suhrkamp |
Auflage | 2003 |
Seiten | 214 |
Format | 12,0 x 18,0 x 2,0 cm |
Gewicht | 266 g |
Reihe | Bibliothek Suhrkamp 1370 |
ISBN-10 | 3518223704 |
ISBN-13 | 9783518223703 |
Bestell-Nr | 51822370A |
Gertrud Kolmar (1894-1943), eine der bedeutendsten Dichterinnen deutscher Sprache, schrieb Prosa, die im Schatten ihres poetischen Werks verborgen und lange verkannt blieb: 1939/40 die Erzählung Susanna (BS 1199) und 1930/31 den eigensinnig packenden Roman Die jüdische Mutter, mit dem es ihr gelingt, schreibt Karin Lorenz-Lindemann, »die schier unlösbaren Probleme jüdischer Selbstbestimmung ... offenzulegen«.
Berlin, Ende der zwanziger Jahre. Früh verwitwet, zieht die Fotografin Martha Wolg ihre Tochter allein auf. Sie ist Fotografin. Als sie eines Abends aus dem Atelier heimkehrt, ist Ursula verschwunden. Auch die ausgedehnte Suche nach ihr bleibt erfolglos. Erst am nächsten Tag findet sie »Ursa« in einem Gartenhaus. Das Kind ist vergewaltigt und schwer verletzt worden. Martha trägt es in ein Krankenhaus. Nach wenigen Tagen flößt sie ihm ein tödliches Schlafmittel ein. In der Folge tut Martha alles, um den »Mörder« ihres Kindes zu finden. Schließlich gewinnt sie einen jün geren Mann für die Suche, der sie rasch wieder verläßt. Verzweifelt gesteht Martha ihm, daß sie selbst die Mörderin ihres Kindes ist - und daß sie ihn, den sie als Werkzeug ihrer Rache nur zu benützen glaubte, liebt.
Leseprobe:
Er stieß eine Tür im Hinterflur auf: "Hier wohn' ich." Es war ein ganz nettes, räumiges Zimmer; sie hatte darauf nicht acht.
"Albert -" begann sie.
"Hier. Zunächst setz' dich. Und dann laß mich erst mal reden. Ich werde mich kurz fassen, sehr kurz. Also: Ich bin kein Flegel, ich bin kein Weib - na, das hast du inzwischen gemerkt - und ich versteife mich nicht darauf, wenn ich Unsinn schwatze, so dummes Zeug, das nachher noch vernünftig zu finden. Ich hatte mich neulich schwer geärgert, Grund genug war vorhanden, und schließlich bin ich in Hitze geraten und hab' dir da ein paar Hiebe versetzt ... ich möchte uns alle beide nicht gern dran erinnern. Du verzeihst mir, ja? Deshalb bist du auch hergekommen oder ... Nein?"
"Nein," sagte sie leise. "Ich ... ich hab' dir nichts nachgetragen, ich kann dir auch nichts vergeben, Albert," sie sprach und schaute ihn an, als wär' es zum ersten Male, "ich habe dich lieb. Komm wieder."
Sie warf die Hand übern Tisch. Er zuckte zurück. N ach ei nem Schweigen:
"Martha. Es tut mir leid; aber ich muß dir auch das noch sagen, ich kann dir nicht helfen. Mein Benehmen am Sonntag war unrecht. In der Sache selbst - hatt' ich recht. Und da liegt was tot, und ich bin kein Zaubrer, ich mach' es nicht wieder lebendig."
Sie flüsterte: "Ja. Mein Armes ..."
Er trommelte auf der Tischplatte mit den Fingern. "Ich meinte dein Armes nicht. Ich meinte unser ... unsere Liebe. Die ist dahin. Und was sie zu guter Letzt umbringen mußte: Es hat immer nachts zwischen mir und dir diese Kindesleiche gelegen."
Ihre Augen dunkelten. "Ich werd' es begraben. Das verspreche ich dir."
"Du kannst nichts versprechen."
"Doch." Sie zeigte ihm einen sehr großen umschnürten Brief. "Weißt du, was das ist? Ursas Bild. Ich möcht' es nur nicht aus dem Umschlag nehmen ...du wirst mir's ersparen ... du kannst ... ja nachher die Schnipsel prüfen, damit du mir glaubst. ... Sieh her!" Sie faßte wie mit Klauen das Ding und riß es in Stücke."