Verlag | Klett-Cotta |
Auflage | 2011 |
Seiten | 316 |
Format | 13,5 x 21,0 x 3,4 cm |
Gewicht | 518 g |
Übersetzer | Luis Ruby |
ISBN-10 | 3-608-93894-X |
ISBN-13 | 9783608938944 |
Bestell-Nr | 60893894M |
Die Kleinfamilie von Carlos, Sara und dem 12-jährigen Pablo wird von einem Jungen aus Pablos Schule bedroht. Als die Eltern erfahren, dass Pablo erpresst und verprügelt wird, beginnt der Vater, seinen Sohn zu protegieren. Carlos und Pablo halten vor der Mutter geheim, dass der Vater den Sohn jeden Tag von der Schule abholt und regelrecht überwacht - nur zu dessen Sicherheit, versteht sich.
Doch bald lässt auch Carlos sich von dem Jungen erpressen und verprügeln und gibt ihm immer mehr Geld, ohne dass er dadurch in Ruhe gelassen würde. Als Carlos seinen Schwager, einen Polizisten, einschaltet, eskaliert die Situation. Fesselnd und eindringlich beschreibt Isaac Rosa die lebenszerstörende Macht der Angst.
Leseprobe:
Für Olivia, im Land der Freude
Beim ersten Mal dachte sie an ein Versehen. Vielleicht hatte sie morgens in der Cafeteria zu wenig Wechselgeld herausbekommen, oder ihr war ein Schein aus dem Portemonnaie gerutscht, als sie das Geld herausnahm. Beim zweiten Mal sagte sie sich, dass es kein Versehen gewesen sein konnte. Sie überlegte, was sie ausgegeben hatte, seit sie am Morgen davor am Geldautomaten gewesen war. Die Rechnung ging nicht auf, zwanzig Euro fehlten. Beim dritten Mal dachte sie an einen Diebstahl in der Firma. In der Regel ließ sie ihre Handtasche, wenn sie auf die Toilette ging oder in einem anderen Raum eine Besprechung hatte, am Schreibtischstuhl hängen. Da konnte es leicht passieren, dass jemand unbeobachtet in ihre Tasche griff und einen Schein aus dem Portemonnaie zog. Vorsichtshalber würde er nicht das ganze Geld entwenden; er würde überschlagen, wie viel er herausnehmen konnte, ohne dass der fehlende Betrag auffiel. Sie hatte keinen Anlass, irgendwen zu verdächtigen. Allerdings gab es Kollegen, die sie kaum kannte, die Fluktuation im Unternehmen war hoch, und so herrschten genug Distanz und Missmut, dass jemand auf die Idee kommen konnte, seine Kollegen zu bestehlen. Heute jedoch, beim mittlerweile vierten Mal, ist Sara sicher: Das Geld, das sie vermisst, ist ihr nicht in der Firma gestohlen worden. Sie ist kaum an ihrem Platz gewesen, hat alle möglichen Unterlagen hin und her getragen, was sie den ganzen Vormittag gekostet hat. Ein Taschendieb in der U-Bahn kann es auch nicht gewesen sein: Es ist ja nicht das erste Mal, und außerdem ist es unplausibel, dass ein Dieb, der einem das Portemonnaie aus der Tasche zieht, nur einen kleinen Schein herausnimmt und es dann zurück an seinen Platz steckt. Nein, das Geld kann ihr nur an einem einzigen Ort gestohlen worden sein, und zwar zu Hause.
Da wäre die junge Frau, die zweimal in der Woche putzen kommt. Sara versucht sich zu erinnern, wann genau die Diebstähle stattgefunden ha ben, und sie glaubt, dass es an den Wochentagen war, an denen die Putzfrau im Haus ist. Eine blutjunge Marokkanerin, Naima. Viel mehr weiß sie nicht von ihr. Sie putzt auch in anderen Wohnungen in der Nachbarschaft, mehrere Bekannte haben sie Sara empfohlen. Naima sei schnell, reinlich und still, hat eine Nachbarin gesagt. Sie arbeitet schwarz, auf Stundenbasis und hat keinen Wohnungsschlüssel. Sie kommt immer nachmittags, wenn Carlos oder Sara zu Hause sind, allerdings lassen sie sie dann häufig allein oder mit Pablo. Ja, sie arbeitet schnell und macht kaum den Mund auf, höchstens mal, um zu fragen, ob sie im Schlafzimmer oder in der Küche anfangen soll, oder um die Erlaubnis der gnädigen Frau einzuholen, wenn sie die Toilette benutzen oder sich ein Glas Wasser holen möchte. Sie ist ausgesprochen höflich und spricht ganz leise, und obwohl Sara sie duzt und sie immer wieder auffordert, sie ebenfalls beim Vornamen zu nennen, spricht Naima sie weiterhin mit »gnädige Frau« an, in der dritten Person.
Misstrauisch geworden, stellt Sara vor Eintreffen der Putzfrau ein paar Nachforschungen an. Sie sieht die Schubladen im Schlafzimmer durch und bemerkt zum ersten Mal das Fehlen mehrerer Schmuckstücke: zwei Armreife, die sie nur zu festlichen Anlässen trägt, einige Ohrringe und ein wertloser Anhänger. Sie sagt sich, dass die Sachen vielleicht irgendwo anders liegen, doch beim weiteren Suchen fällt ihr auf, dass noch mehr Dinge fehlen, ausnahmslos Schmuck von geringem Wert. Sie durchkämmt den Rest der Wohnung und findet weitere Lücken, die ihr bis dato entgangen waren: Filme, deren Verschwinden in der umfangreichen DVD-Sammlung kaum auffällt, CDs, kleine Dekoartikel sowie zwei Flaschen Likör aus der Hausbar, Überreste aus dem Geschenkkorb ihrer Firma von der letzten Weihnachtsfeier.
Weitere Beweise scheinen nicht nötig, aber um ganz sicherzugehen, führt sie ein letztes Experiment durch. Sie greift zur