Verlag | Verlag am Rande e.U. |
Auflage | 2022 |
Seiten | 260 |
Format | 15,2 x 2,4 x 21,8 cm |
Mit Lesebändchen | |
Gewicht | 507 g |
ISBN-10 | 390319056X |
ISBN-13 | 9783903190566 |
Bestell-Nr | 90319056A |
Zwei Jahre nach dem Tod der Großmutter macht sich eine Frau Mitte 50 auf eine langersehnte Reise. Ohne Ziel, ohne Zeitvorgaben geht sie - nur mit einem Rucksack - von zu Hause fort. Die Memoiren und Lebensweisheiten ihrer jüdischen Großmutter, die ihr vor dem Tod ein großes Geheimnis - eine jahrelange Liebesbeziehung zu einem Arzt - anvertraut hat, begleiten sie. Ein tiefgründiger Roman mit autobiografischen Elementen, der die Vielschichtigkeit der menschlichen Seele und Psyche beleuchtet und Mut zur Weiblichkeit macht.
Leseprobe:
Meine Großmutter: Seelenkoliken und LachenEs gab also zwei Männer in meinem Leben, während das normale Nachkriegsleben, sofern man hier das Wort normal verwenden kann, weiterging. Ich funktionierte, ich tat mein Bestes. Wir führten das Leben einer bürgerlichen Familie in Nachkriegszeiten. Ich konvertierte noch vor dem Krieg zum Katholizismus. Ich habe zwar immer meine, unsere, jüdischen Wurzeln gespürt, wuchs jedoch in einer assimilierten Familie auf, wie du weißt. Es war gut so, stimmig, passte für mich.Über das Unfassbare, die Vergasung meiner Mutter und meiner Schwester, möchte, kann ich bis heute nicht reden. Auch wenn ich mir dessen bewusst bin, dass Schweigen nicht gut ist, schaffe ich es noch immer nicht, darüber zu sprechen. Ich habe meine Erinnerungen vor einigen Jahren aufgeschrieben, weil du mich darum gebeten hast. Knapp, kurz, drei Schreibmaschinenseiten, mehr brachte ich anfangs nicht zusammen. Ich verstand, dass dies notwendig war. Du erklärtest mir, dass in unserer Familie offene, klaffende Wunden gärten, solange diese Familientragödien totgeschwiegen werden würden. Also begann ich zu schreiben. Schreiben war für mich besser gewesen als reden. Aus den drei Seiten wurden schließlich mehr, ein Prozess, schmerzhaft, befreiend, heilsam, sofern man überhaupt von Heilung sprechen kann. Für dich, für deine Nachkommen, für unsere Nachkommen, für unsere Vorfahren. Für die Lebenden und die Toten, für die Vergasten. Ich machte das mit all meiner Hingabe, unsere Familiengeschichte wurde schließlich doch aufgerollt, beleuchtet und aufgearbeitet. Zumindest war das der Beitrag, den ich noch leisten konnte. Mir war anfangs nicht klar, wie schmerzhaft dieser Prozess sein würde. Ich erkannte bald, dass ich noch immer sprachlos war. Sprachlos, heiser, mir fehlten die Worte. Ich rang um Worte, wo ich doch sonst mit Formulierungen nicht zögerlich oder gar hilflos, zimperlich, war. Das Schreiben war ein Akt der Befreiung. Ich tauchte immer tiefer in unsere Verga ngenheit ein. Ich machte Stammbäume, kramte alte Fotos hervor, verlor mich in alten Zeiten, in dunklen Zeiten, auch in hellen Zeiten. In blauen Zeiten.Ich ließ alle Verstorbenen zum Leben erwachen, erschuf Bilder, malte im Geiste ihre Geschichten, verwoben und einzigartig. Netze, die verflochten, verfilzt, zerrissen, getrennt oder zusammengeflickt waren, so erschuf, kreierte ich das Vergangene. Es ließ mich nicht mehr los, erfüllte mich so sehr, dass mir die Gegenwart zu entgleiten schien, bedeutungslos wurde in Anbetracht der Kraft und Macht der Vergangenheit. Ganz allmählich schlich sich ein neues Gefühl, eine Ahnung, in mein Leben. Ich spürte, dass ich selbst durch diesen Prozess der Aufarbeitung zum Leben erwachte, mich herausschälte aus dem Sumpf. Ich hatte so viel gelesen von Hinterbliebenen und mich immer wieder gefragt, wie es bei mir gewesen war. In unserer Familie. Aber erst durch deine Forderungen, durch dein Nicht-Lockerlassen, durch deine gezielten Fragen unsere Famil ie betreffend, wurde mir wirklich bewusst, wie viele totgeschwiegene Flecken da waren. Du hattest recht, dass diese leeren Flecken, diese Geheimnisse, mit Wahrheiten aufgefüllt werden mussten - das erkannte ich schließlich. Aber wie findet man Worte für Begebenheiten, die nicht in Worte zu fassen sind? Ich habe diese Vorfälle, den Abtransport, all die Hoffnungen und schließlich all die Nichthoffnungen, alles Verdrängen, die Angst, die Panik, alles Leugnen und die Trauer in den hintersten Winkel meiner Seele begraben müssen, um irgendwie weitermachen zu können.