Das Dritte Reich und die Juden: Die Jahre der Vernichtung 1939-1945 - Ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, Kategorie Sachbuch und Essayistik 2007 und mit dem Pulitzer Prize 2008
Verlag | Beck |
Auflage | 2006 |
Seiten | 869 |
Format | 22,3 cm |
Gewicht | 1204 g |
Übersetzer | Martin Pfeiffer |
ISBN-10 | 3406549667 |
ISBN-13 | 9783406549663 |
Bestell-Nr | 40654966A |
David Moffie wurde am 18. September 1942 an der Universität Amsterdam zum Doktor der Medizin promoviert. Auf einem anläßlich dieses Ereignisses aufgenommenen Photo stehen Professor C. U. Ariens Kappers, Moffies Doktorvater, und Professor H. T. Deelman zur Rechten des frischgebackenen Doktors, der Assistent D. Granaat zu seiner Linken. Ein weiteres Mitglied des Lehrkörpers, das von hinten zu sehen ist, möglicherweise der Dekan der medizinischen Fakultät, steht ihnen gegenüber auf der anderen Seite eines großen Schreibtisches. Im Hintergrund sind - etwas unscharf - die Gesichter einiger der Menschen zu erkennen, die sich in dem kleinen Saal drängen - zweifellos Familienmitglieder und Freunde. Die Angehörigen des Lehrkörpers sind in ihre akademischen Festgewänder gekleidet, während Moffie und Assistent Granaat einen Smoking und einen weißen Schlips tragen. Am linken Revers seiner Smokingjacke trägt Moffie einen handtellergroßen Stern mit dem Aufdruck «Jood»: Moffie war der letzte jüd ische Student an der Universität Amsterdam in der Zeit der deutschen Besatzung.
Dem akademischen Ritual entsprechend fielen gewiß die üblichen Worte des Lobes und der Dankbarkeit. Von anderen Kommentaren wissen wir nichts. Kurz darauf wurde Moffie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Ebenso wie zwanzig Prozent der niederländischen Juden hat er überlebt; der größte Teil der bei dieser Zeremonie anwesenden Juden ist umgekommen.
Das Bild wirft einige Fragen auf. Wie war es beispielsweise möglich, daß die Zeremonie am 18. September 1942 stattfand, obgleich jüdische Studenten mit Wirkung vom 18. September aus den niederländischen Universitäten ausgeschlossen worden waren? Die Herausgeber des Bandes Photography and the Holocaust fanden die Antwort: Der letzte Tag des akademischen Jahres 1941/42 war Freitag, der 18. September 1942; das Wintersemester 1942/43 begann am Montag, dem 21. September 1942. Die dreitägige Zwischenzeit ermöglichte Moffies Promotion, obwohl der Ausschluß jüdischer Studenten bereits obligatorisch geworden war.
Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs erreicht auch die Geschichte des Holocaust im Jahr 1939 eine neue Dimension. Sie kann nicht mehr auf deutsche Politik, Entscheidungen und Maßnahmen begrenzt werden, sondern muß die Reaktionen (manchmal auch Initiativen) der sie umgebenden Welt und die Haltung ihrer Opfer miteinbeziehen. Das ist schon deshalb unausweichlich, weil das, was wir "Holocaust" nennen, einen Vorgang bezeichnet, dessen Totalität gerade in der Konvergenz all dieser Elemente besteht. Überall im besetzten Europa hing die Ausführung deutscher Maßnahmen von der Gefügigkeit der politischen Institutionen, der Unterstützung durch lokale Ordnungskräfte, der Passivität oder Mitwirkung der Bevölkerung und vor allem ihrer politischen und geistlichen Eliten ab. Sie war auch abhängig von der Bereitschaft der Opfer, den Weisungen Folge zu leisten, oft in der Hoffnung, diese abzumildern oder doch Zeit zu gewinnen und irgendwie dem deutschen Schraubstock zu entkommen. Eine Gesamtge schichte des Holocaust muß alle diese Ebenen in den Blick nehmen und integrieren.
"Die Jahre der Vernichtung" erzählt mit großer historiographischer Meisterschaft die Geschichte der Ermordung der europäischen Juden vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende des Dritten Reiches. Doch das Streben nach wissenschaftlicher "Objektivität", nach Erklärung und Analyse kann in einer Geschichte des Holocaust allein nicht genügen. Mit einem überwältigenden Chor von Stimmen - Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Erinnerungen - bewahrt Saul Friedländer seine Darstellung vor der Gefahr der "domestizierten" Erinnerung an ein Geschehen, das ohne Beispiel ist. Es ist gerade diese besondere Qualität seiner Geschichtsschreibung, die das Buch aus der Literatur heraushebt und ihm einen einzigartigen Rang zuweist. Mit Die Jahre der Vernichtung liegt Saul Friedländers großes Werk über die Ermordung der europäischen Juden nun vollständig vor.