Allgegenwärtiges Brüllen, Dröhnen, Pfeifen, Zischen, Fauchen, Hämmern, Rammeln, Klopfen, Schrillen, Schreien und Toben, vor dem der friedliebende Geist weder in Stadt noch Land mehr Zuflucht findet: In seiner furiosen Polemik gegen den Lärm und für die Höflichkeit versuchte Lessing 1908 die zudringlichen Geräusche mit einer glänzenden Typologie der Angriffsformen auf das Ohr zu bannen. Dabei entstand nicht nur eine hervorragende Bestimmung des Lärm-Phänomens zwischen Selbstbetäubung, Vitalität und Aggression, sondern auch ein berührendes Plädoyer für Feinsinnigkeit und Rücksichtnahme, kurz: Menschenfreundlichkeit.
Lessing, der bald einen Anti-Lärm-Verein sowie die Zeitschrift Der Anti-Rüpel gründete, ging gegen die Kräfte des gesamtgesellschaftlichen Getöses und der Rohheit mit allem an, was er hatte, und unterlag ihnen am Ende doch. Heute ist die Beschallung mittels mitgeführter Lautsprecher auch im Freien universell geworden, wie in Identifikation mit dem Aggressor leitet sie sich gar jeder per Kopfhörer direkt in den Gehörgang. Angesichts dessen wird hier Lessings Kampfschrift, begleitet von kommentierenden Essays, für das tägliche Abwehrgefecht gegen den Lärm als Einzelausgabe zugänglich gemacht: einer der schönsten, stillen Hilferufe der deutschsprachigen Literatur.
Theodor Lessing wurde 1872 in Hannover als Sohn einer assimilierten jüdischen Arztfamilie geboren. 1907 wurde er nach Studien bei Edmund Husserl Privatdozent für Philosophie. In seinen Schriften wendete sich der Philosoph, Mediziner und Reformpädagoge gegen Nationalismus, Gewalt, Herrschaft und jede Art ideologischer Sinnstiftung. Er warnte vor dem Untergang der Seele und hatte, wie Elisabeth Lenk bemerkt, die unheilvolle Gabe, Widersprüche, die erst später ins Bewusstsein treten sollten, um sich herum zu entfesseln. Meine Tiere und Blumen sind der gelungene Versuch der Literarisierung seiner Weltsicht, die er in seinem Buch Die verfluchte Kultur anhand eines Zitats Jean-Jacques Rousseaus veranschaulicht: »Geist ist eingedrungen in die Natur, wie das Messer dringt in eines Baumes Mark. Nunmehr freilich kann die toddrohende Schneide nicht aus dem Stamme herausgezogen werden, denn der Baum würde dabei verbluten. Aber niemand darf behaupten, dass ein Schwert im Herzen der Weltesc he das Merkmal sei für ihre Gesundheit.« Theodor Lessing war ein mutiger und streitbarer Vertreter einer untergehenden deutsch-jüdischen Kultur. Als er 1925/26 das Opfer einer nationalistischen und antisemitischen Hetzkampagne wurde, begann sein Leben immer schwieriger zu werden. Beendet wurde es in Marienbad, wo er im August 1933 von sudetendeutschen Nationalsozialisten ermordet und so zu einem der ersten Opfer jenes Regimes wurde, vor dem er schon früh gewarnt hatte: »Der Mittelpunkt jedes Sturmes ist der völlige leere Nullpunkt. Hitler mag der Nullpunkt sein, aber er deutet auf den Sturm.« Der Lessing-Enthusiast Günter Kuhnert nannte ihn »einen Mann zwischen allen Stühlen«. Ria Endres über Theodor Lessing: »Manche seiner Interessen, die zu seiner Zeit bereits veraltet schienen, sind heute brisant.« Lessings Tochter Ruth schrieb: »Die Vorausschau von 1921, wie verflucht unsere Kultur ist, ist ja noch sanft im Vergleich zu der Wirklichkeit von heute.« Links http://www.literaturat las.de/~la14/Der Mord.htm http://de.wikipedia.org/wiki/Theodor_Lessing http://www.glirarium.org/bilch/literatur/lessing.html
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