Das Dorf Lavanda ("Name eines afrikanischen Stammes", wie Onetti sarkastisch vermerkt) verkörpert die moderne Großstadt mit ihrem Amoralismus, ihrer Lebensgier, ihren unterschwelligen ängsten. Und in ihr die Schlüsselfigur: Frieda von Kniestein, reich, unabhängig, Lesbierin, die in einer knirschenden Idylle mit dem von ihr ausgehaltenen Medina und seinen Freundinnen eine Art perverses Matriarchat ausübt.
Jenseits des Flusses, Lavanda gegenüber, liegt Santa María, die berühmte, von Onetti alias Brausen in einem früheren Roman erfundene Stadt, Ort einer noch in christlich-bürgerliche Traditionen eingebundenen Gesellschaft. Hier erfährt Medina, nun Polizeikommissar und aufgeklärter Partriarch, seine zweite Niederlage. Er gibt der Versuchung nach, Gott zu spielen, und kann doch, selbst um den Preis eines Mordes, seinen mutmaßlichen Sohn nicht retten.
Dem Aufbau des Romans entsprechen die Stilebenen: die unruhig assoziierende, in Momentaufnahmen zerfallende Darstellung des Ich-Erzählers im ersten Teil, im zweiten die auktoriale, chronologische, nach Art einer Kriminalgeschichte ablaufende Erzählung. Zynisch und verletzlich, detektivischer Beobachter und Analytiker, Libertin und Mystiker, kehrt Onetti in diesem hermetischen, gleichwohl brillanten, in jeder Zeile ansprechenden Spätwerk noch einmal zu seinem zentralen Thema zurück: dem scheinbar unausweichlichen Entweder-Oder unserer Existenz und dem, was für ihn, den radikalen Nonkonformisten, Mitte des Lebens und Möglichkeit der Transzendenz bedeutet.
Juan Carlos Onetti (_1909 in Montevideo, Uruguay, 1994 in Madrid, Spanien) ist vielfach und zu Recht als einer der bedeutendsten lateinamerikanischen Schriftsteller bezeichnet worden. 1932 erschien im Rahmen eines Literaturwettbewerbs eine Erzählung von ihm in der argentinischen Tageszeitung La Prensa. Sein erster Roman, El Pozo (dt. Der Schacht, 1989), folgte 1939 in einer Auflage von 500 Exemplaren. Er veröffentlichte insgesamt elf Romane und zahlreiche Erzählungen sowie zwei Sammlungen von Artikeln, von denen die Mehrzahl ins Deutsche übersetzt wurde.Bis 1975 lebte er abwechselnd in Buenos Aires und Montevideo, arbeitete unter anderem für die Nachrichtenagentur Reuters, war lange Jahre als Direktor der städtischen Bibliotheken in Montevideo tätig und publizierte regelmäßig in verschiedenen uruguayischen Zeitschriften. Erst mit dem Roman La vida breve (1950, dt. Das kurze Leben, 1978) erlangte er einen gewissen Bekanntheitsgrad, blieb aber noch viele Jahre la ng eine Art »Geheimtipp« und erst in relativ hohem Alter wurden ihm Ruhm und Achtung zuteil. In La vida breve erschuf er den fiktiven Kosmos um die Stadt Santa María, der in vielen weiteren Romanen und Erzählungen auftauchen sollte.Während der Diktatur, die seit 1973 in Uruguay herrschte, wurde Onetti einige Monate lang in Haft gehalten. 1975 ging er mit seiner vierten Frau, der Geigerin Dorothea Muhr, ins Exil nach Madrid, wo er bis zu seinem Tod blieb und die Romane Dejemos hablar al viento (dt. Lassen wir den Wind sprechen, 1986), Cuando entonces (dt. Magda, 1989) und Cuando ya no importe (dt. Wenn es nicht mehr wichtig ist, 1996) veröffentlichte.Der uruguayische Nationalpreis für Literatur wurde ihm gleich zweimal verliehen: 1962 und nach der Rückkehr der Demokratie noch einmal 1985. Außerdem erhielt er 1980 den wichtigsten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt: den Cervantes-Preis.1994 erschien die erste Ausgabe der Cuentos completos (dt. Willkommen, Bob. Gesammelte Erzä hlungen, 1999) in Buenos Aires. Am 30. Mai desselben Jahres starb Juan Carlos Onetti 84-jährig in Madrid.Fast alle großen Autoren Lateinamerikas erkennen Onettis Einfluss auf ihr eigenes Werk an, und von vielen wird er für den größten lateinamerikanischen Schriftsteller gehalten.Im Frühjahr 2005 erschien bei Suhrkamp der erste Band der Onetti-Werkausgabe mit Leichensammler und Die Werft in einer revidierten Übersetzung. In den nächsten Jahren folgten die vier weiteren Bände der Werkausgabe, zuletzt erschienen 2015 mit Band 5 sämtliche Erzählungen Onettis.
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