Verlag | Luchterhand Literaturverlag |
Auflage | 2009 |
Seiten | 270 |
Format | 19 cm |
Gewicht | 256 g |
Reihe | Sammlung Luchterhand Nr.62166 |
ISBN-10 | 363062166X |
ISBN-13 | 9783630621661 |
Bestell-Nr | 63062166A |
Ein Grundlagenwerk über das Entstehen von Gedichten
Von der Einrichtung der Arbeitswerkstatt, den ersten poetischen Eingebungen über das Entwerfen und schließlich das Schreiben von Gedichten wird aus der Sicht des Autors Norbert Hummelt und der des Lektors Klaus Siblewski auf alle wichtigen Aspekte eingegangen, die beim Schreiben von Gedichten eine entscheidende Rolle spielen. Dieses Buch ist das erste in seiner Art zu einem Thema, das nicht nur Autoren interessiert, sondern alle Literatur- und Lyrikliebhaber.
Leseprobe:
Ursprünge
Eines weiß ich merkwürdigerweise immer: wann und wo mir der Einfall zu einem Gedicht gekommen ist. Vielleicht prägt es sich deshalb gut ein, weil mir Einfälle nie am Schreibtisch kommen, sondern unterwegs. Ich vergesse es auch nach Jahren nicht, dabei ist dieses Wissen nutzlos, denn produktiv gemacht werden kann es nicht - die Rückkehr an einen Ort, an dem ich geschrieben habe, erscheint mir zwar manchmal reizvoll, aber dann ist wieder eine andere Stunde, die für nichts garantiert, und der konfuse Lauf der Gedanken, der einmal auf etwas Bestimmtes führte, das ich mir merken konnte oder musste, ist stets und allerorten ein anderer.
An einem Tag im September 2000 fuhr ich abends mit dem Fahrrad durch Köln. Ich kam aus einem Krankenhaus in der Südstadt, wo ich eine Freundin in der Psychiatrie besucht hatte, und war auf dem Weg nach Hause. Sie war Künstlerin und hatte eine bipolare Störung, helfen konnte ich ihr nicht. Ohne schlüssigen Grund kam mir in dieser Stunde ein Scherz meines Vaters in den Sinn, den er gelegentlich zum Besten gab, auf meine Kosten. Er sagte: "Du wirst bestimmt mal Dichter werden, und wenn du Rohrabdichter wirst." Dass ich tatsächlich einmal Gedichte schreiben und daraus sogar einen Beruf machen würde, hat er nicht mehr erlebt, denn er starb, als ich 16 war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich genau ein Gedicht geschrieben, von dem ich nicht weiß, ob ich es ihm zeigte und damit vielleicht Anlass zu seinem Spott gab; auch hatte ich lange nicht an dieses Gedicht gedacht, bis ich es eines Tages zwischen alten Heften entdeckte. Mittlerweile ist dieses Gedicht wieder verschwunden, so dass ich langsam Zweifel hege, ob es überhaupt je entstand. Ich sehe es aber genau vor mir, auf einem gelochten DIN-A5-Blatt mit Rechenkästchen, mit Kugelschreiber beschrieben. Es hieß Herbst am Fluß und war in Stabreimen verfasst. Um diese kenntlich zu machen, hatte ich die alliterierenden Anfangsbuchstaben mit Kuli gefettet. Ich erinnere die Zeilen:"Wolken seh nach Westen ich wandern", "Weit noch ist mein Weg" und "Es nahet die Nacht". Als ich das schrieb, war ich vielleicht zehn oder elf und las Die Sagen der Germanen, herausgegeben von Edmund Mudrak. Dort fand ich die folgenden Verse aus der Edda, die mich zweifellos zu meinem ersten Gedicht anregten: "Urzeit war es, / da nichts noch war: / Nicht war Sand noch See / noch Salzwogen, / nicht Erde unten, / noch oben Himmel. / Gähnung grundlos, / doch Gras nirgends." Am Anfang war also der Nachahmungstrieb, die wichtigste Voraussetzung für jede Kunstanstrengung, wenn auch meinem ersten Versuch lange kein weiterer folgte. Es ist aber gut möglich, dass die Verse aus dem Altisländischen, ein Gesang von der Erschaffung der Welt, meine erste Begegnung mit schriftlich fixierter Lyrik überhaupt waren.
Lyrik wurde bei uns zu Hause nicht gelesen, dennoch umgaben mich Gedichte in Form von Liedern und Gebeten, Letztere bekam ich täglich zu Gehör und lernte sie mitzusprechen, lange bevor ich sie verstand. Vor warmen
Mahlzeiten beteten wir Aller Augen warten auf dich, nach dem Essen eine kleine Litanei, bestehend aus einem Dankgebet, einem Ave Maria und einer Fürbitte für die Toten. Die Litanei konnte aber verkürzt werden, wenn es schnell gehen musste, und in Fällen großer Eile pflegte mein Vater sie durch ein bündiges "Gut geschmeckt, lecker geschmeckt, Amen" zu ersetzen. Der einzige Lyriker, den er im Munde führte, war Wilhelm Busch, denn wann immer es passte oder nicht, warf er - recht frei nach Busch - ein "Kaum war diese Tat geschehen, hörte man auch schon ein Krähen" in die Runde. Der gereimte Zweizeiler war die ihm gemäße Ausdrucksform, er produzierte Zweizeiler auch selbst, im Spazierengehen, wenn wir eine Viehweide passierten: "Guten Tag, ihr Kühe, gebt euch keine Mühe." Das aufzuschreiben wäre ihm nie in den Sinn gekommen, er hatte es ja im Kopf, und so existierten auch die Lieder, die zu meiner Kindheit gehörten, nur mündli