Verlag | Dagyeli |
Auflage | 2022 |
Seiten | 180 |
Format | 14,8 x 1,7 x 21,4 cm |
Gewicht | 340 g |
ISBN-10 | 3935597649 |
ISBN-13 | 9783935597647 |
Bestell-Nr | 93559764M |
Mit dem Grundschulzeugnis in der Hand kehrt Sinan in das leergeräumte Häuschen in der Armensiedlung zurück. Sein Vater hat sich mit seiner neuen Frau aus dem Staub gemacht und für den ungeliebten Sohn keinen Platz mehr. Sinan treibt sich auf den Plätzen herum, auf denen die Gestrandeten sich sammeln, die Kinder aus den Dörfern, die Abgestürzten, und schließt sich einer Kinderbande an. Er wird zu Sinan die Klinge, dem Jungen, der sich die Arme ritzt, das Betteln, Stehlen und Sprücheklopfen lernt, und dass man dem Hunger und der Kälte mit Pillen und Verdünner beikommen kann. Die Händler vertreiben sie, die Polizei jagt sie und setzt sie an den Stadträndern aus. Als Sinan Gül begegnet, ergreift den Pubertierenden die Liebe. Er beschützt das Mädchen, will sie und sich aus dem Elend herausholen. Doch für Romantik ist nur im Kino Platz. Als ein Bandenkrieg eskaliert, plant Sinan den großen Auftritt.Mit Witz und Wärme, ungeschönt und bisweilen brutal schildert Gönül Kivilcim das Leben ei ner Straßenkindergang, die Gewalt auf Polizeistationen, die Kehrseite der boom town Istanbul. Ihr 2002 erstmals veröffentlichter, auf intensiver Recherche beruhender Roman wurde ins Englische übersetzt und ist Teil der neuen Literatur der türkischen Gegenkultur.
Leseprobe:
Gül hatte sich verlaufen, als sie Klinge begegnete. Hatte eines Nachts ihre ferne Kindheit und die blaue Schuluniform,die sie nicht anziehen konnte, mitgenommen und war auf die Straße gegangen. Als sie ihr Filiz, ihre neugeboreneSchwester, auf den Schoß setzten, war Gül, die nackte Königin der Stadt, neun Jahre alt. In der unbarmherzigenNacktheit der Sprache sagte man ihr: »Du bist jetzt sozusagen auch eine Mutter. Du hast ein Baby, wie alle anderen Mütter.« Gül, ihre Mutter, die Nachbarn im Viertel, die Polizisten, die ihren Vater abgeführt hatten, und die Frauen, die mit ihrer Mutter im Konfektionsatelier arbeiteten, waren alle nackt. Sie hatten Gül ihre Kindheit geraubt, die Bücher, aus denen sie das ABC des Lebens hätte lernen sollen, ihre auf dem Schulweg ausgetretenen Schuhe und das Amulett gegen den bösen Blick, das ihre Mutter ihr unter der Schuluniform um den Hals gehängt hatte. An dem Abend, als ihr Vater von der Polizei abgeführt wurde. Als ihre Mutter die Tür geöffnet hatte, war sie von einem Polizisten grob zur Seite gestoßen worden, ehe Dutzende weitere hereingestürmt kamen. Ihr war aufgefallen, wie sehr die Polizisten, die ihn festhielten, ihrem Vater ansahen mit seiner dunklen Haut, seinen buschigen Augenbrauen und seinen schwarzen Haaren, und sie hatte geschrien: »Papa kann ohne Filiz nicht leben. Lasst ihn hier!« Während sie schrie, sah sie aus zusammengekniffenen Augen einen Schatten durch die Tür verschwinden. Den ihres Vaters.